„Du musst mich unbedingt an den Geburtstag erinnern, wenn ich den vergesse, ist sie sicher beleidigt.“ – „Ich erinnere mich… dunkel! War das nicht ihr ehemaliger Lehrer?“ – „Schreib‘ es dir doch als Erinnerung in dein Handy…“ – „In stiller Erinnerung an die, die von uns gegangen sind…“
Erinnerung – eines dieser tausendfachen Wörter. Eines dieser Wörter, das unbewusst oft benutzt wird, in jedem und keinem Kontext, viel zu oft bedeutungsschwanger als „wichtig“ und „unverzichtbar“ beweihräuchert und gepriesen, zu oft im Vergleich, wie selten man es wirklich versteht. Jeder kennt das Wort Erinnerung, schwirren doch sofort dutzende Verbindungen im Kopf herum.
Lasst uns innehalten und rekapitulieren. Was bedeutet es wirklich, sich zu erinnern?
Das mag pathetisch klingen, ist es vielleicht auch. Niemand soll gesteinigt werden, weil man sich mal ganz platt an einen Geburtstag erinnert oder den Einkaufszettel als Unterstützung selbiger gebraucht.
Es soll hier um die Erinnerung gehen, die immer so hochtrabend als Wert angeführt, als kostbares Gut gehandelt wird. Zurecht?
Erinnerungen sind alt, verstaubt, eingerostet. Sie riechen muffig, sind manchmal löchrig, von Motten zerfressen, von der Zeit eingeholt. Sich mit Erinnerungen zu beschäftigen, zurückzublicken, raubt kostbare Zeit, in der man seinen Blick nach vorne richten könnte, in die Zukunft, hin zu Zeiten der noch stärkeren Selbstoptimierung, zu einem noch schnelleren Leben, das man noch mehr nach anderen Leuten und ihren Vorstellungen ausrichtet.
„Hänge nicht an deiner Vergangenheit fest, lebe im Jetzt und arbeite für deine Zukunft!“
So oder so ähnlich lauten die Motivationsmaximen, die Erfolgsberater und Fitnesscoaches einem ubiquitär ins Gesicht lächeln, krakeelen, brüllen, flüstern. Und viele rennen blindlings danach, während sie in nachdenklichen Gesprächen pikiert auf eine samthandschuhene Behandlung der Erinnerung bestehen. Das beißt sich ein wenig, nicht?
Lasst uns einen Moment innehalten.
Es ist immer einfach, von einem Wert zu schwadronieren. Es ist immer einfach, einer plausibel klingenden Maxime hinterherzurennen. Im ersten Schritt ist es auch ein wenig menschlich.
Erinnern wir uns, erkennen wir, dass es vielen genauso ergangen ist.
Bis zur heutigen Zeit haben Frauen weniger Rechte als Männer, weil sie schwächer sind, nicht so schlau, nicht so verantwortungsbewusst, zu emotional, weil Eva Schuld auf sie geladen hat.
Klingt plausibel? Nein! Trotzdem war es gesamtgesellschaftlich anerkannt, Allgemeinwissen.
In den 1930ern und der Folgezeit glaubten Massen an Menschen, dass das Wichtigste ein starkes, unindividuelles Volk sei, das aufgrund seines höheren Wertes dazu berufen sei, „Minderwertige“ auszurotten, darunter Juden, Homosexuelle, politisch anders Denkende, körperlich und geistig Behinderte.
Es gibt wenig, was falscher ist als die menschenverachtende Propaganda des NS-Regimes.
Ha! Da haben wir’s. Erinnert man sich, so lernt man.
Man lernt, dass nicht alles, was glänzt, Gold ist, im Gegenteil.
Man rekapituliert Dinge, die man schon einmal gehört, aber noch nicht verinnerlicht hat. Man frischt auf.
So, wie man einen wunderschönen Tag mit den Liebsten Jahre später noch gerne vor Augen hat, genauso, wie man bei dem bestimmten Duft von Meersalz und Rosen an den Urlaub am Meer denkt, so lernt man, die Emotionen, die Bilder, die Geschichten nicht zu vergessen.
Und genau so wenig, wie man diese positiven Fluten an guten Gefühlen und Kribbeln im Bauch nicht vergessen will, es als Pflicht sieht, sich daran zu erinnern, so ist es auch Pflicht, sich an alles Negative zu erinnern. Auch wenn es schmerzt. Wenn es unangenehm ist, Peinlichkeit und Scham in einem hochschwappen lässt. Wenn man am liebsten alles davon ungeschehen machen würde.
Das ist leider nicht möglich.
Wir können uns aber erinnern, um zu verhindern.
„Wer sich seiner Vergangenheit nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.”
George Santanaya
Wir können Menschen wachrütteln, indem wir die Scham ertragen, indem wir den Kopf erheben und das Bewusstsein wecken. Denn Schuld müssen wir keine fühlen, solange wir unser Bestes geben, dass die Fehler der Vergangenheit nie in Vergessenheit geraten, denn nur so halten wir sie begraben.
Demokratie, Frieden, Gleichheit, Freiheit sind wertvolle Güter, die aber nicht bleiben, wenn man sie hat. Man muss für sie eintreten, aufstehen, kämpfen.
Lasst uns für das Gute kämpfen, indem wir uns erinnern und nicht nur erinnern, sondern daraus lernen und nicht mehr vergessen, auf dass die Werte nie verloren gehen.