Unvergessen #1

Louisa Hobler

20. März 2021

Dies soll der erste Beitrag einer Reihe von Geschichten sein, Schicksale, erzählt von Menschen, die noch von vergangenen Zeiten zu berichten haben oder von Angehörigen, die wollen, dass Geschehenes nicht in Vergessenheit gerät, sondern uns heute noch eine Lehre sein kann und dass das Andenken an die individuellen Schicksale bewahrt wird.

Dazu möchte ich zu jeder Geschichte einen Titel aus Literatur oder Film empfehlen.

Der Junge mit nur einer Socke

Mein Großvater Gerd erzählte oft und einigen Familienmitgliedern mit einem leichten unbekümmerten Lachen, er habe auf dem Weg zu einem Bunker einmal seine Socke verloren, er wurde 1938 Ende August geboren, fast genau ein Jahr vor Beginn des Zweiten Weltkrieges. Heute, ein paar Jahre nach seinem Tod, dank privater, wie schulischer Erziehung und persönlichem Interesse, glaube ich, nein, ich bin überzeugt davon, dass es kein Spaß für einen kleinen Jungen ist, in der Nacht von brüllenden Sirenen und den ängstlichen Rufen der Mutter, Geschwister oder des Vaters, wenn dieser denn nicht in den finsteren Feldstellungen, die Europa durchzogen um sein Leben bangen musste oder gar schon gefallen war, geweckt zu werden, aus seinem Bett, seinem vertrauten Haus gerissen zu werden, um in einen engen, dunklen, stickigen und gefüllten Bunker zu fliehen, während jederzeit um einen herum die bekannte Welt zusammenbrechen kann. Ich glaube nicht, dass er lachte, wenn er uns, mir und meinem Bruder, die Geschichte vom verlorenen Strumpf erzählte, weil es schöne oder witzige Erinnerungen waren, von denen er berichtete. Ich glaube, dass der kleine Junge mit nur noch einem Strumpf die Gräuel sonst womöglich nicht überwunden hätte.
Als Kind reagiert ich belustigt, ich wusste es nicht besser und doch, gerade als Kind hätte mir meine behütete Kindheit in Frieden umso herrlicher erscheinen sollen.

  1. Im Westen nichts Neues; Erich Maria Remarque

Quelle Titelbild: pixabay

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