Im selben Boot

Louisa Hobler

17. Juli 2021

Todesanzeige meines Urgroßvaters

“Nach Gottes heiligem Willen fiel er am 28. Dezember 1943 im Alter von 40 Jahren im Osten einer heimtückischen Kugel zum Opfer” – So steht es geschrieben in der Todesanzeige meines Urgroßvaters, der im Krieg für Deutschland, im Auftrag des nationalsozialistischen Systems, fiel. Die Todesursache: “eine heimtückische Kugel”.
Was heißt heimtückisch eigentlich? Was bedeutet es? Sucht man eine konkrete Antwort im Duden, so lautet diese für das Wort Heimtücke: “hinterlistige Bösartigkeit”. Am 28. Dezember 1943 wurde meiner Oma – an ihrem Geburtstag – und ihrem Bruder ihr Vater genommen, meiner Uroma der Ehemann, meinen Ururgroßeltern ein Sohn und seinen Geschwistern ein Bruder. Ein Fall von so vielen Millionen von Söhnen, Brüdern, Vätern, Ehemännern und allgemein Männern und Frauen, die eines Tages gingen und nie wieder zurückkamen. Wofür? Für wen und warum? Fragen, Verluste und immense Trauer in allen Ländern, beteiligt am Krieg; doch im Tod sind alle gleich, es gibt keine Feinde, kein richtig und falsch. Leider hatten zu viele Deutsche das Regime der Nationalsozialisten unterstützt und den Krieg gewollt – umnebelt von den giftigen Reden des Führers und seines Propagandaministers oder tief überzeugt von der nationalsozialistischen Idee. Immer wieder in der Geschichte der Menschheit wollten Teile diesen Krieg führen, aktiv andere Gruppen, Völker, Nationen angreifen, ohne Not dazu. Für mich unvorstellbar, unverständlich. Also zurück zu der “heimtückischen Kugel”, ob gewollt oder nicht, ob deutsch, französisch, englisch etc. alle Soldaten saßen nun im gleichen Boot, in einem schrecklichen Boot, in dem man jederzeit bereit sein musste zu töten oder sterben. Ein gemeinsames Schicksal, das die Menschen nahezu vergessen ließ, wer sie waren und woher sie kamen, dass sie Menschen und keine Bestien waren, denn im Krieg vergisst man alle Regeln der Gesellschaft, der Kultur, wenn es darum geht zu überleben, bei Wind und Wetter, im Dreck, im Granatenhagel und Beschuss, immer mit dem Tod im Rücken, der bereit ist sich sein nächstes Opfer zu greifen. Grausame Szene, nein grausamste Szenen, die niemals je ein Mensch hätte erleben sollen, müssen. Wer also kann sagen auf der “richtigen Seite” zu stehen? Die Nationalsozialisten scheiden hier gewiss aus. Aber wer kann hier einem Mann Heimtücke, Bösartigkeit unterstellen, der im selben Boot sitzt, nur eben auf der anderen Seite, der seinerseits für die Heimat und die dort Zurückgelassenen kämpft. Im Krieg werden die meisten Soldaten zu Tötern – nicht Mördern – doch das Blut klebt nicht an ihren Händen, nicht an denen eines einzelnen Soldaten, der zwischen der Wahl stand, töten oder getötet werden, sondern an denen derer, die das unglücklichste aller Unglücke, den Krieg, willentlich und wissentlich verursacht haben.
Meine Oma wuchs ohne Vater auf, sie war noch jung, als die Nachricht seines Todes kam, zu jung, um zu begreifen, nicht zu jung, um den Schmerz zu spüren.
Heute spüre ich stets eine große Enttäuschung und Wut, wenn ich von den menschenverachtenden Videospielen höre und den Spielern, die sich in Spielen wie Battlefield mit möglichst brutalen “kills” brüsten und sich über das “Abschlachten” fiktiver Gegner erfreuen. Der Krieg war kein Spiel und wird es nie sein und die meisten Soldaten, die einmal von Angesicht zu Angesicht töten mussten, kamen, sofern sie heimkamen, als Wrack ihrer selbst heim, depressiv und unfähig in den Spiegel zu schauen, geprägt von den furchtbaren Erfahrungen.
Solche Spiele und Ähnliches sorgen für eine Desensibilisierung der Jugend und anderer Bevölkerungsteile und fördern ein Denken in den Kategorien “Feind” und “Freund”, eine Desensibilisierung, die wir uns nicht leisten können, die sich keiner leisten kann.
Mein Text soll ein Plädoyer sein, ein Plädoyer für Menschlichkeit, die über allem stehen sollte, über Nation und Religion, für Einigkeit und für einen sensibleren Umgang mit sehr düsteren Jahren unserer Geschichte, die sich auf keinen Fall jemals wiederholen sollten.
Im Andenken an meinen Urgroßvater, den ich nie kannte, den meine Mutter als seine Enkel Tochter und meine Oma als seine Tochter nie kennenlernen durften und im Andenken all jener, die ihr Leben ließen, im Andenken nicht, weil sie ihrem Land gedient haben, sondern weil sie Menschen waren und all der Angehörigen, die eine geliebte Person verloren.

Noch ein Filmtipp: Joyeux Noël / Merry Christmas; Film von Christophe Rossignon (Der Film handelt von der Waffenruhe im Ersten Weltkrieg über Weihnachten 1914)

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