Rückkehr in die Zeiten des Kalten Krieges?

Annelie Collet-Müller

12. Juni 2022

Der Überfall Putins auf die Ukraine – direkt in unserer Nachbarschaft – dauert nun schon viele Wochen an. Wir können vor dem unendlichen Leid der ukrainischen Bevölkerung unsere Augen nicht verschließen. Die schrecklichen Bilder und Nachrichten von der Unmenschlichkeit der russischen Angriffe und den Gräueltaten, denen die Menschen in der Ukraine tagtäglich ausgesetzt sind, entsetzen uns immer wieder aufs Neue. Jeder von uns hofft auf ein sofortiges Ende dieses Krieges, der Tag für Tag zahlreiche Tote und eine massivste Zerstörung der Infrastruktur in der Ukraine zur Folge hat. Diese Hoffnung ist das Einzige, was wir haben, aber momentan kennt niemand eine Lösung für diesen Konflikt, denn je länger er andauert, desto schwieriger wird es für Putin, sein Narrativ von einer „Spezialoperation“ gegen die „Naziherrschaft in der Ukraine“ aufrecht zu erhalten. Angesichts der massiven wirtschaftlichen Sanktionen der westlichen Staaten gegen Russland wird es auch immer unwahrscheinlicher, dass sich Putin noch ohne Gesichtsverlust aus dieser Situation heraus manövrieren kann.

Wie aber ist dann ein Ende des Krieges noch möglich, ohne dass die Ukraine wieder in den russischen Machtbereich einverleibt wird?

Viele Politiker bei uns und in westlichen Ländern kritisieren jetzt lauthals, dass Deutschland sich in den vergangenen Jahren aus freien Stücken und reichlich blauäugig in einem selbst gewobenen „Spinnennetz“ aus wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Verflechtungen mit Russland verfangen habe. Man sei politisch naiv gewesen gegenüber einem Staat, der immer schon seine imperialen Ziele verfolgt und mit den Grundwerten von Demokratie nie etwas im Sinne gehabt habe. Ziel unserer deutschen Politik müsse es jetzt sein, Russland als Schurkenstaat für immer zu isolieren, was konkret bedeuten würde, zu der Epoche des Kalten Krieges zurückzukehren, einer Zeit nach Ende des Zweiten Weltkrieges, in der sich sowohl die westlichen Staaten als auch die Sowjetunion als Strategie der gegenseitigen Abschreckung militärisch bis an die Zähne bewaffneten und – zumindest bis in den 60er Jahren – fast keinerlei direkte politische und wirtschaftliche Kontakte pflegten. Eine radikale Wende wurde erst eingeläutet durch einen Strategiewechsel in der Politik der Bundesrepublik Deutschland: „Wandel durch Annäherung“ / „Wandel durch Handel“, im Wesentlichen geprägt von den SPD-Politikern Egon Bahr und Willy Brandt.

Als ich – als junge Slawistik-Studentin – 1977 ein mehrwöchiges Stipendium an der Simferopol auf der Krim erhielt, war das „politische“ Misstrauen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion noch sehr stark. Aber auch die Menschen in beiden Ländern standen sich aus den unterschiedlichsten Gründen nicht gerade freundschaftlich gegenüber. Wir wurden in einem Vorbereitungsseminar sehr ausführlich darauf hingewiesen, wie wir uns dort zu verhalten hatten, um nicht negativ aufzufallen oder gar verhaftet zu werden. In diesem Falle könne man von deutscher Seite aus nämlich nicht viel tun. Die Angst vor diesem unberechenbaren Land war groß, ebenso unsere Neugier und die freudige Erwartung darauf, unsere im Sprachlabor erworbenen Sprachkenntnisse nun endlich ausprobieren zu können.

Wir durften z.B. keine westlichen Zeitungen bzw. Bücher mitnehmen, nicht einmal Modezeitschriften mit Schnittmustern, die zu dieser Zeit in der Sowjetunion sehr beliebt und als „Tauschobjekte“ einen enormen Gegenwert hatten. Uns wurde auch verboten, politische Themen anzusprechen oder Fragen zur Geschichte der Sowjetunion zu stellen, die ja – nicht nur zu dieser Zeit – in beiden Ländern unterschiedlich interpretiert wurde. Damals habe ich zum ersten Mal „live“ erfahren müssen, dass zwei unterschiedliche Geschichtsschreibungen existieren, nämlich eine östliche und eine westliche, von denen jede für sich in Anspruch nimmt, die einzig wahrhaftige zu sein.

Ein sehr eindrückliches Beispiel dafür ist mir bis heute im Gedächtnis geblieben: In jedem Bus in Simferopol gab es vorne über dem Fahrersitz eine Art Ikone mit dem Bild eines Mannes, den wir als Stalin identifizierten. Da wir nicht glauben konnten, dass die Russen diesen – nach unserem westlichen Geschichtsverständnis – so grausamen Diktator und Massenmörder wie eine Ikone verehrten, haben wir uns irgendwann getraut nachzufragen. Die Antwort lautete unisono: “Das ist Väterchen Stalin, der uns im Großen Vaterländischen Krieg den Sieg über Nazi-Deutschland gebracht und alle guten Russen beschützt und versorgt hat.“

Während des Studienaufenthaltes war es uns unter Androhung strengster Strafen verboten, Simferopol allein und ohne unsere „zugewiesenen“ russischen Mitstudenten zu verlassen. Insbesondere war es uns untersagt, nach Sewastopol zu fahren, dem Sitz der russischen Schwarzmeerflotte, da es militärisches Sperrgebiet war und damit der Geheimhaltung – vor allem natürlich gegenüber westlichen Ausländern – unterlag. Wir haben uns des Öfteren einen Spaß daraus gemacht, unsere „Schatten“ abzuhängen, bis wir erfahren haben, dass es für die russischen „Begleitstudenten“ sehr ernste Konsequenzen hatte, wenn sie nicht lückenlos belegen konnten, wo wir uns in unserer Freizeit aufgehalten hatten. Ab diesem Zeitpunkt haben wir sehr viel Zeit gemeinsam verbracht und auch eine freundschaftliche Beziehung aufbauen können. Junge Leute finden – auch außerhalb der Politik – viele Themen, über die sie diskutieren und so gegenseitiges Misstrauen abbauen können.

Hier komme ich wieder zurück zur Frage, wie mit Russland zukünftig zu verfahren ist. Zunächst einmal muss man klar und deutlich sagen, dass Putin nicht gleichzusetzen ist mit dem russischen Volk. Er ist ein Diktator, der die Menschen in Russland mit eiserner Hand regiert, sich in keinster Weise um Menschenrechte schert und vor allem jegliche Meinungsfreiheit brutal im Keim erstickt. Dies macht einen echten Widerstand gegen seine Regierung nahezu unmöglich. Die Gründe dafür liegen auch in der Geschichte Russlands und sind vielfältig.

Dass er mit seiner Entscheidung, die Ukraine anzugreifen, nicht nur sich, sondern allen Russen geschadet hat, ist ebenfalls als Fakt anzusehen. Leider haben die westlichen Staaten dem imperialen Machtstreben Putins zu lange tatenlos zugesehen: Man erinnere sich nur an den russischen Krieg gegen Georgien im Jahr 2008 oder die Annexion der Krim 2014. Ein kurzer Aufschrei in den westlichen Medien – aber das war es! Nun hat Putin zu einem neuen Schlag ausgeholt, nämlich gegen die Ukraine, ein Land der „alten Sowjetunion“, das – nach Putins geostrategischem und wirtschaftlichem Denken, wieder in den russischen Machtbereich eingegliedert werden muss.

Nach jetzigem Stand der Dinge kann man sagen, dass das alte Misstrauen, das die Zeit des Kalten Krieges geprägt hat, die Politik der nächsten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, wieder bestimmen und die Beziehungen zwischen den Menschen in Ost und West nachhaltig schädigen wird.

Besonders tragisch ist diese Entwicklung für die Menschen in der Ukraine und Russland, die durch langjährige familiäre Beziehungen friedlich und freundschaftlich miteinander gelebt haben. Werden diese Menschen nach Kriegsende wieder bereit sein, aufeinander zuzugehen und vertrauensvoll neue Kontakte knüpfen???

Trotz allem hoffe ich, dass unsere Politiker jede Anstrengung unternehmen werden, diesen Krieg auf diplomatischem Weg zu beenden, denn das einzige Ziel, das allen Menschen in Ost und West dient, ist und bleibt Frieden.

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