Der 9. November – ein Tag zum Innehalten

Theresia Berwanger-Jochum

13. November 2022

„Karin und ich waren auf dem Weg zur Schule þ In den Straßen war es ruhig. (…) Irgendetwas stimmte nicht. (…) In der Nähe der Rentzelstraße trafen wir zwei Klassenkameraden. Sie weinten. (…) So erfuhren wir, dass während der Nacht Deutsche jüdische Geschäfte geplündert hatten, dass sie Synagogen angezündet und entweiht hatten. (…) Es war der 10. November 1938. Wir blieben stehen und redeten. Schließlich entschieden wir uns, dass die Schule heute geschlossen sein müsse und gingen in die entgegengesetzte Richtung zum Bornplatz. Wir konnten schon von Weitem Rauch riechen, in unmittelbarer Nähe der großen Synagoge sahen wir größere Gruppen von Männern, einige in SA-Uniformen, einige in Zivilkleidung. (…) Wir gingen an kleinen Läden vorbei und sahen Glasscherben und Waren auf der Straße liegen. Und Deutsche, die dabeistanden und lachten. Um keine Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen, trennten wir uns, und jede ging in einer anderen Richtung nach Hause.“

 Lucille Eichengreen, Jüdin aus Hamburg, war von Juli 1944 bis Kriegsende im KZ Neuengramme (u.a. Außenlager Hamburg-Sasel) inhaftiert.   

Der 9. oder 10. November 1938 ist  mehr als diese Beschreibung der jungen Lucille erfassen mag:

  • Brand von Hunderten von Synagogen in ganz Deutschland
  • Zerstörung und Plünderung von jüdischen Geschäften und Wohnungen
  • Misshandlung, Verhaftung und Tötung jüdischer Mitbürger und Mitbürgerinnen
  • Gewaltexzesse über mehrere Tage – die weitere Stufe hin zum systematischen Völkermord an den europäischen Juden

Eingegangen in die Geschichte ist der 9. November 1938 als Reichspogromnacht oder Reichskristallnacht (Hinweis auf die Scherben und Glassplitter – eher eine zynische Verharmlosung).

Als Gedenktag wirft dieses Datum bei mir Fragen auf – und das jedes Jahr wieder aufs Neue:

  • Wie konnte es so weit kommen?
  • Woher dieser Hass, diese blinde Zerstörungswut?
  • Wie konnte man davor die Augen verschließen?
  • Wie konnte man dazu schweigen?

Ich verstehe es nicht …

Mehr noch – es stellen sich mir in der Gegenwart immer neue, zusätzliche Fragen, auf die ich keine Antwort habe:

  • Was haben wir daraus gelernt?
  • Warum gibt es heute immer wieder Bedrohung, Ausschreitungen, Hass  und Gewalt gegen jüdische Personen und Einrichtungen?
  • Wieso immer noch oder wieder neu dieser weitverbreitete Antisemitismus in vielen Ländern?

Trösten und mahnen mögen uns die Worte von Esther Bejarano:

Ihr tragt keine Schuld an dem, was passiert ist.

Aber ihr macht euch schuldig, wenn ihr nichts über die Zeit wissen wollt.

Esther Bejarano,  Holocaust-Überlebende

Wachrütteln und zur Empörung rufen mögen uns die Worte von Michael Köhlmeier:

„Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem großen Schritt, sondern mit vielen kleinen, von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung“

Michael Köhlmeier, Schriftsteller

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