Mauer im Kopf

Charlotte Kalmes

5. März 2023

Wie das Weitertragen einer Ost-West-Einteilung unsere ungebrochene Einigkeit verhindert – und wieso es Schwachsinn ist

Dicke, weiße Großbuchstaben auf schwarzem Grund. Viele Ausrufezeichen und ein paar Schimpfworte in der Caption. „Danke Mama und Papa, dass ich kein Wessi bin“, lese ich mit 12 auf einem Instagram-Post.
Ein Upload einer Nische, von deren Existenz ich nicht wusste, an die ich keine Gedanken verschwendet hatte.

Etwas irritiert – und natürlich auch neugierig – inspizierte ich die Kommentarspalte, die voller Hass, Beleidigungen und für mich nicht logischen Behauptungen und Anfeindungen gegenüber genannten „Wessis“ waren.

Klar, ich wusste, was bzw. wer damit gemeint war, trotzdem klickte ich und recherchierte wie eine kleine Detektivin herum, nahm die Profile derer unter die Lupe, die mit dem Post reagiert hatten.
Und meine Vermutung traf zu – es ging um die Thematik der einstigen Teilung Deutschlands in DDR und BRD, Osten und Westen.  

Eigentlich war das ja glasklar, eindeutig gewesen – die Begriffe sind so gut wie allen geläufig und es hätte nicht so vieler Nachforschungen bedurft. Aber meine Verständnislosigkeit gegenüber diesem Hass war so enorm, dass ich irgendwo hoffte, etwas ganz Anderes entdeckt zu haben, dessen Hintergrund ich nicht kannte.

Mir fehlte das Verständnis für die Kategorisierung „Ossi“ – „Wessi“. Nicht zu Zeiten eines geteilten Deutschlandes geboren, kannte ich es immer nur mit 16 Bundesländern und einem ganzen Berlin. Kenne nur eine Währung, ein Parlament, das ein deutsches Volk regiert.

Und auch wenn der Kapitalismus und die Demokratie nun am Ende quasi „gewonnen“ haben und die DDR aufgrund ihrer Überwachung, der unzähligen Verbote, der Zensur, der staatlichen Willkür und der Unfreiheit der Wahlen heute – zurecht – hauptsächlich negativ dargestellt wird, gibt es scheinbar gar nicht so wenige Vetreter*innen, die das ganz anders sehen. Die sich betrogen fühlen, gezwungen, hintergangen, eingesperrt vom Kapitalismus und die in unserer Demokratie keine Demokratie sehen.

Selbstverständlich, wer in der DDR geboren, aufgewachsen und gewirkt hat, der große, prägende Zeiten seines Lebens dort zugebracht hat, ist Anderes gewohnt. Und sicher, nicht alles am Kapitalismus ist toll und ja, unsere Bürokratie und die Entscheidungsfindungen können sehr langsam sein, aber wer eine perfekte Staats- und Wirtschaftsform kennt, der werfe den ersten Stein.

Außerdem – und jetzt kommt der Punkt – was hat das alles mit den Individuen zu tun?!

Mein Geburtsort ist absolut zufällig. So dankbar, wie wir sein sollten, in Europa geboren zu sein, so müssen wir auch uns bewusst werden, dass jetzt der genaue Ort auch innerhalb Deutschlands absolut zufällig ist. Ein Mensch wird nicht weniger wert, nur weil man von einem Bundesland ins nächste fährt. Doch das ist leider ein Muster, das oft genug auftritt – und sei es nur in der albernen Streiterei Saarland vs. Rheinland-Pfalz.
Nur, dass es in diesem Kontext ernster ist. Dass Widerstand gegen den Staat entsteht. Selbstjustiz. Vigilantismus.

Was das betrifft, sind Unruhen innerhalb der Bevölkerung und so massive Kritik an der Regierung bzw der Staatsordnung auf Unzufriedenheit zurückzuführen.

Schon aufgeführt, Unzufriedenheit mit der Veränderung.

Aber jeder und jede passt sich mit der Zeit an Veränderungen an.

Problematisch sind unter anderem im  „ Osten“ – also „den neuen Bundesländern“, eine im Vergleich zum Bundesschnitt höhere Arbeitslosenquote, eine sinkende Attraktivität der ländlichen Bereiche, unter anderem, weil Firmen größtenteils im Westen ihre Hauptsitze haben. Das Einkommen ist durchschnittlich geringer, die Auswirkungen des demographischen Wandels größer.

Es sei viel verpasst worden und viel schief gelaufen bei der Vereinigung, erzählt mir eine aus der DDR stammende Bekannte, die nun aber schon seit 30 Jahren hier zu Hause ist.

Da will ich ihr nicht widersprechen. Ich will auch keins der strukturellen Probleme, die im Zusammenhang mit „dem Osten“ genannt werden, kleinreden.

Es wird ja auch investiert. Es gibt extra Ostbeauftragte, parlamentarische Ausschüsse, die sich nur mit der „Ostproblematik“ beschäftigen. Natürlich, es gibt immer Kritikpunkte, aber zu behaupten, die Probleme verschwenden in der Bedeutungslosigkeit, ist dreist gelogen.

Und ein Schlag ins Gesicht für andere.

Denn schon damals, in den Recherchen um den hirnverbrannten Post, wurde ich stutzig bei den Informationen zur „Angleichung“ des „Ostens“ – als Saarländerin, die sich durchaus über unsere wirtschaftlich, finanziell und strukturell prekäre Situation bewusst ist.
Und tada: Wirft man einen genaueren Blick auf Statistiken zu strukturschwachen Regionen, gibt es nicht nur den armen, armen Osten. Das ganze Saarland ist rot eingefärbt, Teile von Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen.

Und dies auf den Statistiken zu Arbeitslosigkeit, zu mangelnder Infrastruktur, zu überschuldeten Gemeinden, zu wirtschaftlichem Abschwung, zu Landflucht und zu lückenhafter Bildung.

Es sind Probleme, die keine Klassifizierung kennen, kein „West“ und kein „Ost“. Wir sind auch betroffen.

Man verstehe mich nicht falsch, ich möchte den neuen Bundesländern weder ihre harte Geschichte noch ihre verdienten Subventionen und Unterstützungen absprechen, nur braucht es diese Mühen auch wo anders.

Statt „Ostbeauftragte“ könnte es Ausschüsse für diese Probleme in ganz Deutschland geben.
Denn hier spürt man die Macht der Sprache und welchen Einfluss sie auf unsere Realität und Wahrnehmung derselben hat.
Die ständige, nicht enden wollende Betonung von „West“ und „Ost“ führt unbestreitbar nur dazu, dass weiterhin in diesen Kategorien gedacht wird und alte Vorurteile, Ideologien und Antipathien bestehen bleiben, fest eingestampft werden ins Bewusstsein all jener, die dieses sensible Thema von egal welcher Seite mit enorm vielen negativen Emotionen assoziieren.

Es führt dazu, dass sich andere benachteiligte Gebiete nicht gehört fühlen. Die Unzufriedenen im „Osten“ bekommen durch die ständige weitere Kategorisierung von West und Ost suggeriert, dass sie in diesem so „drastisch defizitären Gebiet Deutschlands“ weiterhin ein Volk zweiter Klasse bleiben, das alle „Wessis“ hassen.

Obwohl Deutschland nur so ganz ist – ungeteilt.
Obwohl schon ein paar Generationen diese Unterteilung nicht mehr verstehen – so wie ich zum Beispiel. Denn ganz ehrlich – müssten wir uns nach dieser Logik nicht auch zu Frankreich gehörig fühlen…? Oder doch eher neutral und nicht deutsch, weil das Saarland auch lange vom Völkerbund verwaltet worden war…? Egal, wie man es dreht und wendet – es gibt keinen plausiblen Grund, die Ossi vs. Wessi Karte weiterhin so hasserfüllt auszuspielen.

Denn im Alltag resultiert das Ganze in so traurigen Dynamiken wie der meiner Bekannten, die hier seit 30 Jahren immer noch oft genug den abfälligen „Ossi-Stempel“ aufgedrückt bekommt und bei den alten Verwandten und Bekannten eine „Wessi-Verräterin“ ist. Die Mauer fiel zwar 1989, in vielen Köpfen besteht sie leider weiterhin.

Also ich finde: Einigkeit sieht anders aus. Und vielleicht können wir ab heute dazu beitragen, dass wir uns ihr immer weiter annähern.

Lasst uns als Tribut und Erinnerung an alle mutigen Bürger*innen für unsere Einigkeit weiter einstehen und die Mauern in den Köpfen einreißen.

Quelle Titelbild: Gavin Stewart: The fall of the Berlin Wall. Creative Commons BY 2.0. Quelle: Flickr.

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