Wachsam bleiben!

Gastautor*in

22. Juli 2023


Dieser Beitrag wurde von Mathias Zell verfasst. Er ist Mitarbeiter an der Gedenkstätte KZ Hinzert und studiert an der Uni Trier Geschichte und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien.


Wachsam bleiben ist der Name dieser Website und darüber hinaus ein Imperativ oder auch Appell. Allerdings kein sehr spezifischer. Wer soll wachsam bleiben und warum oder vor was? Auch impliziert die Aussage, dass irgendjemand gegenwärtig wachsam ist und diesen Zustand an andere weitergeben will. Fast wie ein Läufer, der nun den Stab an den Nächsten weitergibt oder ein Arbeiter, der die Schicht ablöst und ans Werk schreitet.

Es erinnert mich an den Satz „Nie wieder“ oder auch #neveragain, den wir vom 27. Januar, dem Holocaust Gedenktag, kennen. Dies ist zwar ein ganz anderer Satz, aber meint das Gleiche.

Nämlich, dass die Demokratie ein fragiles Konstrukt ist, das es zu schützen gilt und das auch nicht von irgendjemandem, sondern von uns, also auch von dir, der du gerade diesen Text liest!

Ich will es nicht unnötig abstrakt machen. Betrachte die Demokratie wie einen Schatz, auf den du gut aufpasst, weil es z.B. ein Geschenk von Oma war. Spontan denke ich hierbei an den Verlobungsring, den Opa ihr vor unzähligen Jahren geschenkt hat. Was tust du damit? Bringst du ihn zu „Bares für Rares“, um noch ein paar Euro zu machen, um doch endlich eine Wanderung im Schwarzwald zu machen, oder hebst du ihn auf, trägst ihn hie und da zu besonderen Anlässen, zeigst ihn deinen Freunden und erinnerst dich nebenbei noch an deine Oma?

Zugegeben, diese Traditionen kommen doch allmählich außer Mode und der Schmuck, den meine Generation heute erwirbt, erlebt in der Regel nur wenige Jahre. Schmuckringe verlieren den silbernen Glanz durch Abrieb, oder der eigentlich stabile Ring verbiegt sich, nachdem man unzählige Biere damit geöffnet hat und wird ersetzt. Ich gebe es also zu, dass die Metapher etwas hinkt, allerdings bin ich mir sicher, dass mein Gedanke klar geworden ist. Betrachte die Demokratie nicht als etwas Abstraktes, das eben „schon immer da war“ und mit dem man nicht so richtig etwas anfangen kann.

Der letzte Eintrag dieser Website widmete sich dem Wahlsieg des Herrn Sesselmann in Sonneberg. Daher brauche ich dies nicht erneut aufzugreifen. Die Feinde unserer Demokratie und unserer Lebensweise gibt es überall auf der Welt. Sie sind aber auch unter uns, hier in Deutschland. Meine Generation erlebt etwas Einmaliges in der Geschichte, nämlich Frieden in Zentraleuropa und das schon 78 Jahre lang! Die Generationen davor haben auch den höchsten Preis dafür gezahlt. Zerstörte Städte, zerstörte Träume von der Weltmacht, zerstörte Familien, zerstörte Freundschaften und die Erkenntnis, das größte Verbrechen in der Geschichte der Menschheit begangen zu haben oder es wenigstens billigend in Kauf genommen zu haben.

Vielleicht bist du noch sehr jung, wenn du das hier liest und hast ähnliche Sätze schon oft gehört, ohne dabei wirklich etwas zu empfinden. Das ist auch ok. Vielen geht das so. Es ist die Erfahrung, die einen Menschen irgendwann dazu bringt, zu realisieren, was dahintersteckt. Wohinter? Hinter 6 Millionen ermordeten Juden. Männer, Frauen, Kinder. Menschen mit Träumen, Plänen und Vorstellungen. Um von den anderen Opfern des Nationalsozialismus gar nicht erst zu beginnen.

Wahre Bosheit beginnt da, wo man einen anderen Menschen nur noch als Objekt, nicht aber als Person mit Gefühlen und Gedanken wahrnimmt. Die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer (101 Jahre alt) sagte mir, damals schon 97 Jahre alt, „Sei ein Mensch!“, als wir uns in Berlin einmal trafen und miteinander sprachen. Schau dir an dieser Stelle bitte mal ein Bild von dieser Frau an und blick in ihre großen Augen. Auf YouTube gibt es etliche Interviews von ihr, höre ihre Stimme. Fast immer fällt dieser Satz, „Seid Menschen!“. Ich würde diesen Moment als Lebens verändernd bezeichnen – wie ein Weckruf. Nun bekam dieses Verbrechen ein Gesicht, es war nichts Abstraktes mehr – wie wenn man nur von Mobbing liest, bis der beste Freund oder die beste Freundin von solchen Erlebnissen selbst berichtet. Es ist die Empathie, die es mir klar werden ließ, dass die Demokratie ein Geschenk ist, das es zu schützen gilt, damit Menschen nie wieder grundlos verhaftet, verfolgt, eingesperrt oder gar ermordet werden.

Niklas Frank (Sohn von Hans Frank) hat es treffen auf den Punkt gebracht, als er sagte: „Stell dir mal kurz vor, dass DU es wärst.“

Du würdest mit deiner Familie gewaltsam verhaftet und tagelang in einem engen Zug quer durch Deutschland fahren, nach Ankunft von der Familie getrennt, rasiert, tätowiert und zu schwerer körperlicher Arbeit gezwungen werden in dem Wissen, dass du deine Eltern nie wieder sehen wirst.

Vor einigen Wochen hörte ich einen Vortrag des bekannten Strafverteidigers Ulrich Endres. Als Anwalt verteidigt er bewusst Menschen, die schwere Straftaten verübt haben. Er tut dies, weil er davon überzeugt ist, dass auch diesen Menschen noch Gerechtigkeit zusteht. Ausnahmen kennt er jedoch auch – Nazis. Als Grund nannte Herr Endres die Geisteshaltung dieser Menschen, damit könne er nicht arbeiten. Wenngleich er anerkennt, dass natürlich auch diesen Menschen ein Anwalt zusteht. Wir dürfen unsere Menschlichkeit nicht vergessen, nur weil es diese Menschen getan haben!

Was möchte ich also mit diesen Zeilen sagen? Seid wachsam! Gemeinsam passen wir auf die Demokratie auf, die uns 78 Jahre Frieden und Freiheit gebracht hat. Es gibt Probleme in diesem Staat, über die wir als Demokraten streiten können, z.B. die Besteuerung von Menschen oder die richtige Gewinnung von Energie. Aber bitte, bitte, streitet nicht über den Sinn von Demokratie und Menschenrechten. Haltet euch da an das Lied von Konstantin Wecker „Sage nein!“. Es gibt eine Version dieses Liedes, dass er gemeinsam mit der saarländischen Holocaust-Überlebenden Esther Bejerano singt. Die Empfehlung geht wärmstens raus.

Ich wünsche mir, dass dieser Text dich zum Nachdenken anreget. Die persönliche Ansprache dieses Textes war mir wichtig, da ich nicht viel von der theoretischen Behandlung dieser Themen halte. Gespielte Betroffenheit hilft uns da nicht weiter. Demokratie lebt von der Mitarbeit! Habe eine Meinung, sprich sie aus. Nur in der Diskussion lernt man sich argumentativ durchzusetzen.

Archiv