Hadamar – gerechter Mord in einer Heilanstalt?

Charlotte Kalmes

17. September 2023

Eine kleine Stadt in Mittelhessen, nahe dem malerischen Limburg. Eine Stadt mit langer Geschichte, beginnend im neunten Jahrhundert, in Verbindung stehend mit dem Nassauer Adelshaus.

Neben großen, altehrwürdigen Kirchengebäuden und viel Grün im Stadtbild ist Hadamar bekannt für die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, etwas abseits vom Stadtgeschehen auf einer Anhöhe, wo brutal gemordet wurde.

Hierhin hat es uns als Arbeitsgemeinschaft Erinnerungskultur am 11. und 12. September hin verschlagen, denn bei den Verbrechen in der eigentlichen Heilanstalt handelt es sich um Verbrechen des Nationalsozialismus, denen wir weiter auf die Spur kommen mussten.
In der heute wieder in Regelbetrieb laufenden Klinik wurde ein ganzes Gebäude einer Gedenkstätte für die Opfer des dritten Reiches gewidmet, wo wir einen Workshop besuchten.

Einige unserer AG-Mitgliederinnen beim Recherchieren

Was geschah in Hadamar?

Schon 1883 wurde das psychiatrische Krankenhaus Hadamar gegründet, blieb zunächst eine „normale“ Heilanstalt für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung, mit psychischen Krankheiten wie Schizophrenie, dissoziative Identitätsstörung, PTBS, Depressionen, Angststörungen, Trisomie, Autismus, Lernbeeinträchtigungen etc. 

Nur, dass damals viele dieser Menschen als „Schwachsinnige“ bezeichnet wurden. Alle, die, wie das Wort nahelegt, einen „schwachen Sinn“ hatten, also ihre geistige Leistung betreffend aus der Norm fielen, „hysterische“ Personen, vor allem Frauen, wurden hier eingeliefert. Schnell war nur die gesamte Anstalt hoffnungslos überbelegt und die Patient*innen mangelhaft versorgt unter unhygienischen Zuständen dort untergebracht.

Zu dieser Zeit bestand das Deutsche Kaiserreich, in dem ein radikaler Konservativismus herrschte; Gehorsam, Ehrgeiz, Treue gegenüber dem Vaterland, Disziplin und auch Produktivität waren Hauptwerte der Gesellschaft. Ein perfekter Nährboden nicht nur für nationalsozialistisches Gedankengut, was besonders nach dem Zerfall des Kaiserreiches aufblühen konnte, sondern auch für die Einteilung von Menschenleben in wert oder unwert. 
Die Patient*innen in der Klinik Hadamar konnten oft nicht oder kaum arbeiten, unter anderem natürlich auch aufgrund ihrer mangelnden Versorgung und der damals mangelhaften Inklusion und Integration von Menschen mit besonderen Bedürfnissen in die Gesellschaft.

Sie leisteten damit für ihre Mitmenschen keinen sichtbaren Beitrag, waren unproduktiv und kosteten sogar Geld. Das konnte ja logischerweise kein lebenswertes Leben sein, oder?

Diese Frage stand lange im Raum, und erst Hitler beantwortete sie klar: nein. Die Perfidie des Nationalsozialismus bestand darin, über den Wert menschlichen Lebens zu entscheiden, basierend auf den verdorbenen Werten des menschenverachtenden Systems. So passten Menschen mit Beeinträchtigung nicht in die „arische Rasse“ und wurden zunächst, damit ihre „nicht-arischen“ Eigenschaften nicht weitergegeben werden konnten, zwangssterilisiert.

Die Nationalsozialisten zogen dabei jedoch nicht in Betracht, dass viele Krankheiten bzw. Beeinträchtigungen keineswegs oder nicht vornehmlich genetisch bedingt sind, also dass Betroffene sehr wohl rundum gesunden Nachwuchs oder „gesunde“ Eltern sehr wohl Kinder mit Beeinträchtigung bekommen können. Als dann trotz Sterilisation noch gleiche Krankheitsbilder auch in der Regelbevölkerung auftraten, wurden andere Maßnahmen diskutiert.

Der Gedanke, Menschen mit psychischen Krankheiten oder Beeinträchtigungen hätten kein schönes Leben, von dem man sie erlösen müsste, wurde präsenter und präsenter und im Rahmen des „T4“ Programmes und danach der „dezentralen Euthanasie“ in die Tat umgesetzt: eine systematische Ermordung des aus nationalsozialistischer Sicht unwerten Leben.

Euthanasie kommt aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie „schöner Tod“ – die Verbrecher des Dritten Reiches sahen sich also als Erlöser der Patient*innen, die selbigen einen Gnadentod gewährten.

Gesamtgesellschaftlich herrschte bezüglich der Euthanasie kein so großer Konsens wie bei Antisemitismus: In jeder Familie jeder Abstammung mit jeder religiösen Zugehörigkeit können Menschen mehr oder minder an psychischen Krankheiten oder Beeinträchtigungen leiden – vor allem durch den erst kurz vergangenen Ersten Weltkrieg gab es derer zur Genüge. Es konnte jeden treffen, Mutter, Vater, Geschwister, Freunde – also wurde das Vorhaben der systematischen Ermordung geheim gehalten, was schon der Name des Programmes suggeriert. Das geheimnisvolle und wenig aussagekräftige „T4“ steht für Tiergartenstraße 4, die Adresse in Berlin, in der die Euthanasiezentrale gelegen war. So spiegelten sich die Verbrechen nicht im Namen ihrer Aktion wider.

In jeder psychiatrischen Heilanstalt musste über jede*n Patient*in ein Formular ausgefüllt werden, das über Weiterleben oder Ermordnung entschied. Ein einziges Blatt mit einer Handvoll Kriterien.
Am Gewichtigsten war die Produktivität: Konnte ein*e Patient*in noch arbeiten, stellte er/sie noch einen Mehrwert für die Gesellschaft dar und durfte unter unwürdigen Bedingungen noch Zwangsarbeit leisten. War jedoch keine Arbeitsfähigkeit gegeben, keine Aussicht auf Besserung oder gar Entlassung, dass die Angehörigen den Unterhalt finanzieren konnten, war die Person dem Tode geweiht.
Die als nicht mehr lebenswert Einkategorisierten wurden in bestimmten Stationen gesammelt, in Grüppchen zunächst in die nächstgelegenen Zwischenlager gebracht und von dort aus in eine der zu Tötungsanstalten umfunktionierten Kliniken, wie zum Beispiel Hadamar.

Die Verweildauer in diesen Tötungsanstalten betrug meist nur ein, zwei Tage: nach einer letzten, unwürdigen Untersuchung durch Ärzte, Verwaltungsangestellte, Pfleger*innen wurde ihnen alles Hab und Gut entwendet und sie in die als Duschen getarnten Gaskammern gepfercht. Alleine in Hadamar wurden in der sogenannten ersten Mordphase über 10.000 Menschen mit Kohlenstoffmonoxid vergast.

Ihre Leichen wurden respektlos behandelt: Goldzähne gestohlen, Gehirne seziert, um mehr neurowissenschaftlichen Aufschluss über den „Schwachsinn“ zu erhalten, in Industriekrematorien verbrannt und ihre Asche – wenn es gut lief – in Massengräbern verscharrt. 

Die Angehörigigen wurden nach der Ermordung mit einem menschenverachtenden Lügenbericht über den angeblich natürlichen Tod aufgeklärt. Meist wurde eine Krankheit oder Veranlagung des/der Patient*in genommen und daraus eine Geschichte gesponnen; weswegen die Todgeweihten gleich nach der Ankunft in der Mordanstalt dem aktenkundigen Arzt vorstellig wurden, der sich dann ein Märchen für die Angehörigen darauf basierend ausdachte.

Das sofortige Einäschern und die Zerstörung jeglichen privaten Besitzes wurde mit der „Unreinheit“ der Patient*innen gerechtfertigt. 

Zwar bestand das Angebot, sich die Asche der Verstorbenen einzufordern, aber auch das war nur eine Farce, um den Mord zu vertuschen. Denn wenn die Angehörigen sich tatsächlich wagten und sich an die Institution wandten, wurde ihnen irgendeine Asche zugeschickt aus der Masse der Ermordeten. Das, was an diesem bestimmten Tag eben gerade zur Verfügung stand.
Die Asche wurde auch nicht ordentlich separiert, sodass die Asche des Brennmittels die Asche der Ermordeten verunreinigte.

Die erste Mordphase endete Ende 1941 mit einer kritischen Predigt des Bichhofs Galen, der die Ermordung schwer verurteilte. Die Alliierten verbreiteten die Predigt als Flugblätter und aufgrund des immer mehr schwindenden Rückhalts in der Bevölkerung mussten die Nationalsozialisten ihre Vorgehensweise ändern. 

Der Beschluss fiel, zwar die aktive Vergasung zu stoppen, das Personal wurde aber bis auf Weiteres in Bereitschaft gehalten.

Ab August 1942 war nicht nur Regelbetrieb in der Anstalt wiederhergestellt, sondern auch das Morden begann erneut, diesmal aber nicht nur durch von den Ärzten veranlasste Vergasungen, sondern aktiv durch alle anderen Angestellten mit überdosierten Medikamenten, (Gift)Injektionen oder gezieltes Verhungernlassen.

Die Zielgruppe wurde erweitert von den Patient*innen auf speziell geistig beeinträchtigte Kinder und Säuglinge, auf sogenannte „Halbjuden“, Zwangsarbeiter aus dem Osten, die unter dem Vorwand vermeintlicher Tuberkulose separiert und durch Giftinjektionen ermordet wurden. Dies wurde bis zur Befreiung durch die Allierten 1945 so fortgeführt.

Im Garten der Gedenkstätte findet sich ein Massengrab, das zeitweise als Friedhof getarnt wurde.

Falls die Angehörigen der Beisetzung, die, um das Misstrauen nicht zu erwecken noch angeboten wurden, beiwohnen wollten, bekam der/die Verstorbene kein Einzelgrab. Mehr wurde eine Beisetzung in einem einzelnen Grab inszeniert, eine kleine Ansprache eines Geistlichen, der Klappsarg blieb „aus Zeitgründen“ daneben stehen. Sobald die Angehörigen wieder außer Sichtweite waren, wurde die Leiche zu den anderen ins Massengrab gekippt und das Scheingrab konnte für die nächste vermeintliche Beisetzung genutzt werden.

Bei der Dichte der Verbrechen an der Menschlichkeit bleibt einem kein Wort zu sagen. Nichts scheint den Gräueltaten gerecht zu werden, keine Verurteilung adäquat. 
Man besinnt sich auf die Rechenschaft, zu der die Täter*innen gezogen und ihrer gerechten Strafe beigeführt wurden. Als Trost und um all jene unschuldigen Ermordeten zu rächen.

Oder? 

Die Alliierten kümmerten sich nach Ende des Zweiten Weltkrieges um die Demokratisierung Deutschlands und um die Gerichtbarkeit derjenigen, die Verbrechen gegen andere Völker begangen hatten. Die Morde von Deutschen an Deutschen, auch die Euthanasiemorde, wurden als „deutsche Angelegenheit“ außen vor gelassen.

Es gab auch Prozesse für die Beteiligten, jedoch sehr abgeschwächt. Zu viele Freisprüche, zu kurze Haftstrafen. Als Beispiel erfuhren wir von einem der leitenden Ärzte Hadamars Hans Gorgaß, der zwar zunächst die Todesstrafe erhalten sollte, die aber in Anbetracht einer neu eingerichteten Demokratie in Deutschland nicht mehr vollstreckt wurde. Im Laufe der Jahre wurde die Strafe des Mannes, der tausende Menschen umgebracht hatte oder an ihrem Mord beteiligt gewesen war, dann 25 Jahre, die dann auf 15 und zuletzt auf 10 Jahre reduziert wurden. Nach seiner Entlassung behielt er seine ärztliche Approbation und konnte bis zu seinem natürlichen Tod im hohen Alter weiterhin seinen Beruf praktizieren.

Dies ist nur eines vieler erschreckender Beispiele.

Und genau wie die Täter*innen nicht angemessen zur Rechenschaft gezogen wurden, wurde auch die Euthanasieverbrechen lange totgeschwiegen, keine Aufarbeitung in der Öffentlichkeit oder mit Angehörigen geleistet. 

Gedenkstätten wie Hadamar tragen dazu bei, dass die Erinnerung aufrecht erhalten, ja, verbreitet wird, unser Bewusstsein geschärft und unsere Werte menschlich und demokratisch bleiben.

Ich spreche im Namen aller AG-Teilnehmer*innen, die Hadamar besuchen konnten, wenn ich betone, wie sehr mich die Begebenheiten wie auch alle Einzelschicksale, von denen wir erfahren haben, berühren. Ich lege jedem und jeder, der oder die die Möglichkeit hat, ans Herz, sich eine solche Stätte anzusehen und an sich heranzulassen, denn die Schuld, die Scham, das Mitgefühl und die Trauer, die dabei aufkommen, sind das Mindeste, was wir als Hinterbliebene den Opfern schulden.


 

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