Kollateralschaden Zivilist: Über zivile Opfer im Krieg

Louisa Hobler

5. November 2023

Ein Einblick in eine ethische und juristische Debatte fernab von richtig und falsch.

Disclaimer: Ich bin weder Jurist noch Philosoph, in diesem Artikel möchte ich auf diese komplexe Thematik aufmerksam machen und dafür sensibilisieren, die Quellen, die ich zur Recherche genutzt habe, sind verlinkt.

„Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt“, ein Spruch, den wohl fast jeder mal gehört hat, doch was hat es damit auf sich?

Ein paar Zahlen, die eben nicht nur irgendwelche Zahlen sind, vorneweg:

Kriege gibt es schon beinahe, seit die Menschheit an sich existiert, alleine für das Jahr 2022 wurden vom HIIK (Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung) 363 Konflikte weltweit erfasst, bei 104 davon handelte es sich um Ressourcenkonflikte, 831 Konflikte um Wasser wurden zwischen 2010 und 2022 verzeichnet (Zahlen von de.statista.com).

In den beiden Weltkriegen zusammen starben insgesamt weit über 100 Millionen Menschen, in nur etwas mehr als 30 Jahren, darunter Soldaten, aber auch Zivilisten (diplomatic-council.org). Im vergangenen Jahr verloren 238.000 Menschen ihr Leben durch herrschende Konflikte, die meisten davon in einem kaum bekannten Konflikt: dem Tigray-Konflikt in Äthiopien (tagesschau.de).

Unvorstellbar hohe Zahlen, bei denen allzu leicht die Tatsache aus den Augen gerät, dass es sich bei jedem einzelnen um einen Menschen, um ein Schicksal handelt, nicht bloß um eine grauenvolle Statistik, hunderte Millionen von Menschen, denen die Chance auf ihr eigenes Leben genommen wurde.

Aber nun zum eigentlichen Thema, welches aufgrund der medial aktuellen Konflikte, dem Angriffskrieg auf die Ukraine, sowie der terroristischen Kriegshandlungen der Hamas gegen Israel und der islamistischen Propaganda kontrovers betrachtet und diskutiert wird: zivile Kriegsopfer.

Was ist das eigentlich ein Zivilist? Ein Zivilist ist kein Soldat, so das Bundesamt für politische Bildung (bpb.de). Das Wort stammt aus dem Lateinischen von „civis“/„civilis“ also Bürger/bürgerlich, das heißt ein Zivilist gehört keiner Streitkraft an, ist nicht in einem Militäreinsatz, trägt keine Uniform und ist nicht als Teil einer Truppe ausgestattet mit Waffen und anderer Ausrüstung. Zivilisten sollten also prinzipiell nicht (aktiv) Teil einer Kampfhandlung werden und doch geraten sie immer wieder zwischen die Fronten, sie oder ihre Heimat, ihr Hab und Gut werden zum „Kollateralschaden“ oder sie werden sogar bewusst taktisch in Konflikte eingebunden, indem sie als Geiseln oder „menschliche Schutzschilde“ missbraucht werden.

Diese Art der Kriegsführung ist nicht nur höchst verwerflich, sondern auch durch das humanitäre Völkerrecht, welches von der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen geschaffen wurde, verboten, wobei 3 Prinzipien einzuhalten sind: Als erstes das Unterscheidungsrecht, das vorgibt, dass generell zwischen Militär und Zivilbevölkerung zu unterscheiden ist, dazu gehört, dass keine Angriffe gezielt auf Zivilisten oder die gesamte Zivilbevölkerung stattfinden dürfen, aber auch, dass eine Kriegspartei die eigene Bevölkerung zu schützen und von Kampfschauplätzen und -handlungen fernzuhalten hat. Was dennoch erlaubt bleibt, sind Angriffe auf militärische Ziele oder Personen, wobei Zivilisten als Kollateralschaden in Kauf genommen werden können. Dabei gilt jedoch das zweite Prinzip, das Notwendigkeitsprinzip, damit wird geregelt, dass die angerichteten Zivilschäden immer im Verhältnis zu den erreichten militärischen Zielen stehen müssen. Dazu kommt das Verhältnismäßigkeitsprinzip, welches besagt, dass die Zerstörung ziviler Objekte, die Verwundung und Tötung ziviler Personen so gering wie möglich zu halten sind. Somit soll auch gewährleistet werden, dass es nicht zum Einsatz von Waffen kommt, die zivile Gebiete und Umwelt für lange Zeit zu einer menschenfeindlichen Umgebung degradieren (amnesty.ch).

Die Probleme: Zunächst einmal handelt es sich nicht um völlig klare Definitionen der Prinzipien, ab wann ist ein Angriff nicht mehr verhältnismäßig? Ab wann ist der militärische Erfolg zu gering für welches Ausmaß an Schaden? Diese Fragen gilt es für den internationalen Strafgerichtshof mit Sitz in Den Haag zu klären, der IStGH ist eine unabhängige internationale Organisation, deren Aufgabe es ist „die Verantwortlichen für ihre Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen“ (unis.unvienna.org). Das resultiert jedoch in einem weiteren Problem, der Vollzug eines Urteils, denn nicht jeder Staat erkennt den Artikel 58 des IStGH-Statut an, welcher als Grundlage für den Erlass eines Haftbefehls dient, nur 120 Länder haben dieses unterzeichnet und sind damit laut Artikel 86 ff. und Artikel 89 zur Kooperation, sowie der Festnahme und Überstellung eines per Haftbefehl gesuchten Verbrechers verpflichtet (lto.de). So gab es bereits mehrfach Schwierigkeiten bei der Festsetzung Verurteilter.

So viel zur völkerrechtlichen Lage, doch wie sieht es aus in einem Fall, wie dem des andauernden Israel-Konflikts, in dem Israel die Seite der Verteidigung und der Gegenoffensive obliegen. Wenn Offensivschläge mit Schaden an der Zivilbevölkerung nun rechtens sind, so sind sie noch immer nicht unbedingt als ethisch korrekt zu erachten und werden aufs Strengste diskutiert.

Die Ethik bietet gleich mehrere Konzepte zur Überprüfung, ob eine Handlung als „moralisch richtig“ einzustufen ist oder eben nicht. Zum Beispiel die verschiedenen Formen des Utilitarismus (lat. utilitas = Nutzen, Vorteil). Bei jenem handelt es sich vereinfacht geschildert um die Betrachtung des „Lustgewinn“ oder der Vermeidung von Leid abgewogen zwischen der Anzahl der „Lustgewinner“ oder Leidträger. Das heißt, es wird abgewogen, wie vielen Menschen eine Handlung Lust bringt und wie vielen sie Leid bringt, je nach Vertreter wird zusätzlich die spezifische Qualität der Lust oder des Leides bestimmt, meint, dass beispielsweise  der Verlust eines geringen Geldbetrages weniger gewichtig in das sogenannte „hedonistische Kalkül“ miteinfließt, als der starke Verlust der körperlichen Unversehrtheit. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Konsequenzen einer Handlung, sind die Folgen überwiegend gut, also führen sie zu einem höheren Lustgewinn als zu Leid, so ist sie „moralisch korrekt“, unabhängig von den Absichten, die dahinterstehen.

Im Krieg kann nun also überlegt werden, wie groß die Verluste und die Zerstörung zivilen Lebens im Vergleich zu den errungenen Zielen und Siegen wiegen, das bereits genannte Verhältnismäßigkeitsprinzip sowie das Notwendigkeitsprinzip folgen also gewissermaßen einer utilitaristischen Abwägung. Dieses Vorgehen erscheint auch zunächst sinnvoll, wenn auch unschön. Ist es allerdings überhaupt vertretbar, Leben gegen Leben zu verrechnen, zu kalkulieren, wer leben darf und wer nicht? Viele Menschen würden das verneinen, schließlich ist und bleibt die Würde des Menschen unantastbar und auch diese Position ist mindestens legitim, denn Leben ist Leben und sollte nicht leichtfertig geopfert werden. Letztlich ist Ethik ein Konstrukt, von Menschen, für Menschen, dessen Gültigkeit in der Natur schon nur noch bedingt besteht. Keineswegs bedeutet das, dass es nicht von immenser Bedeutung ist, zumindest den Versuch anzustellen, „ethisch zu handeln“ oder dass die Ethik keine Rolle in unserem praktischen Leben spielen sollte. Und doch gibt es im Krieg nicht immer richtig und falsch, schwarz und weiß, wenn es darum geht ein Land und dessen Bewohner, viel weitreichender auch Werte, wie Freiheit und Sicherheit, zu verteidigen. Letztlich bleibt die Frage ohne konkrete Antwort, die Verantwortlichen fast ohne Wahl und tatsächlich nur eine sichere Pflicht, sich zu jedem Zeitpunkt zu vergegenwärtigen, dass es sich eben nicht nur um Kollateralschaden handelt, sondern um Menschen.

Das Titelbild wurde mit DALL·E 3 erstellt.

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