Meine Oma Hilde (Teil 2)

Melissa Pelk

1. Mai 2022


Den ersten Teil findest du hier.


Ich möchte diesen, für mich emotionalen, Text mit einem kleinen Ereignis aus meinen letzten Wochen beginnen. Während der Abiphase bin ich seit Jahren wieder schwimmen gegangen. Als ich dort also abends meine ersten Runden durch das Becken geschwommen bin, ist es mir schwer gefallen einen regelmäßigen Atmungsablauf beizubehalten. Also schwamm ich so vor mich hin, atme ein und aus, und bemerke den Mann, der in der Bahn neben mir seine Runden drehte. Er war wesentlich schneller und praktizierte verschiedene Techniken, aber neben dem Wasser, das von seinen Bewegungen in mein Gesicht gespritzt ist, habe ich noch etwas mitbekommen: sein durchgehendes Schnappen nach Luft zwischen seinen Bewegungen. Der Mann muss auf die gleichen Dinge achte wie ich, nur in anderen Verhältnissen. Auch wenn er sicher viel professioneller schwamm, er musste trotzdem immer darauf achten, dass er atmet. Das hat mich auf eine Analogie gebracht. Man lebt nicht am besten, wenn man versucht alles perfekt zu machen, sondern, wenn man versucht, erst einmal für sich klarzukommen und dann einen Schritt weitergeht, um den Menschen mit ähnlichen Herausforderungen zu helfen. Ich weiß, dass die Botschaft ziemlich abgewaschen, aber anscheinend immer noch in unserer Welt nötig.

Die Parallele zu meiner Oma in 1945 ziehe ich daraus, dass die Frau sehr stark war und sich nicht von dem Elend Ihrer Deportation übermannt hat lassen. Natürlich leidet sie noch heute unter schlimmem Heimweh und unter tiefen, unbehandelten Trauma, aber trotzdem hat sie es geschafft, heute einigermaßen glücklich zu leben mit einer Familie, die sie liebt. Sie hat für sich gelernt weiter zuschwimmen und dabei nicht das Atmen zu vergessen.

Am 6. Mai konnte man Kanonenschüsse von ihrem Elternhaus hören, am Tag darauf sah man Flugzeuge am Himmel und am Tag daraufhin war die Kapitulation, bei der jedes deutsche Haus in der Gegend eine weiße Fahne aufhängen musste. Die danach folgenden Ereignisse, die ich schildern werde, sind nichts für schwache Nerven. Mir haben sie zumindest gereicht, um davon zu träumen. Am 9 Mai 1945 sind nun russische Soldaten in das Dorf eingefallen und haben sich auf brutale Art den deutschen Dorfbewohnern als Sieger demonstriert. Sie haben deutsche Soldaten auf dem Dorfplatz erschossen und haben die Menschen an ihnen vorbeigeführt. Es gab keine Ausnahmen bei den Kindern. Meine Oma konnte mir noch sehr detailliert von dem Leichenberg erzählen, von verzerrten Gesichtern, offenen Wunden und Gehirnen, die aus Kopfwunden zu sehen waren. Und das sind alles wahre Situationen, kein CGI, kein Kunstblut, nichts. Das waren Menschen mit Gedanken, Gefühlen, Familien und Interessen, die aus ihrem Leben gebracht worden sind und nie wieder die Chance bekommen haben, zu diesen zurückzukehren. Für Dorfleute jedoch ging das Leben weiter in großer Furcht. Die Kinder wurden daraufhin in dem Keller des Lehrers versteckt, weil das Gerücht herrschte, sie würden ihnen von den russischen Soldaten weggenommen bekommen. Aber nicht nur die waren in Gefahr. Während die Kinder ihren Alltag vorerst im Keller verbracht haben, sind die Frauen aus der Hintertür geflohen, wenn Soldaten an der Tür geklopft haben. In der Familie meines Opas gab es leider Fälle, in denen die Frauen sich nicht mehr rechtzeitig retten konnten. Dazu kamen noch tschechische Soldaten, die plünderten und die Umwandlung von deutschen Geschäften in tschechische vornahmen.

Die Zeiten wurden Stück für Stück ruhiger und man passte sich an, man versuchte weiter zu atmen. Mein Urgroßvater musste seinen Beruf als Schreiner aufgeben und hat daraufhin bei der nahe gelegenen Hutfabrik gearbeitet. Für die Kinder gab es zwar keine Schule mehr, aber noch Religionsunterricht. Es gab ein Ausgehverbot ab 18 Uhr und das Essen wurde knapp. Eine Erinnerung, die meine Oma hat, ist, dass an Weihnachten heimlich Brot gemahlen wurde und die kleinen Brote unter den Mänteln der Kinder versteckt nach Hause gebracht wurden. Auch Milch war so rar, dass eine Cousine der Familie welche ins Haus mithilfe einer Feldflasche geschmuggelt hatte.

Was lernen wir daraus? Wir als Bevölkerung können wenig gegen Krieg in anderen Ländern tun. Was aber geht, ist die unschuldigen Menschen zu unterstützen, mit dem was wir können und haben. Entweder Geld, Unterkunft, Güter oder das Unterstützten von Hilfsorganisationen, es gibt immer etwas, das man tun kann, um anderen beim Weitermachen, beim Weiteratmen, zu unterstützen.

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